Die Rohheit der Welt
Fotografie ist eine Sprache. Im Falle von Thibaut Henz und Guillaume Delleuse ist sie eine
Sprache zur Formulierung der Rohheit dieser Welt. Gemeint ist eine urbanisierte Welt, in
der soziale und politische Strukturen existieren, die herrschende und unterdrückte Körper
hervorbringen. Metropolen shapen die Körper ihrer Passanten und die Straßen sind ihre
Auslageflächen. Soziale Ungleichheit, Armut, Gewalt, aber auch Liebe, Begehren, Genuss
und Exzess kommen hier zusammen und sind eng verbunden mit einer eigenen,
körperlichen Erfahrungen.
Guillaume lebt in Marseille und fotografiert hauptsächlich in Paris und anderen
Großstädten wie New York. Thibaut fährt immer wieder mal zum Fotografieren nach
Belgien, er ist aber auch der an verschiedenen unbekannten Orten und in seiner näheren
Umgebung mit der Kamera unterwegs.
Für beide spielt der Körper im Stadtraum, und die Spuren, die ihm eingeschrieben sind,
eine zentrale Rolle.
Ich möchte zu Beginn ein Zitat aus einem Aufsatz von Edouard Louis lesen, den er
anlässlich des Aufkommens der Gelbwestenbewegung im Dezember letzten Jahres als
Statement dazu veröffentlichte: “Etwas an der extremen Gewalt und an der sozialen
Verachtung, die dieser Bewegung entgegenschlägt, lähmt mich. Auf den Fotos zu den
vielen Artikeln sah man Körper, die im medialen und öffentlichen Raum fast immer
unsichtbar bleiben. Körper, die von der Müdigkeit und der Arbeit, vom Hunger, von der
andauernden Demütigung durch die Herrschenden verwüstet sind, die gezeichnet sind
von räumlicher und sozialer Ausgrenzung. Ich blickte in ausgemergelte Gesichter, sah
gebeugte, gebrochene Menschen, schaute auf erschöpfte Hände.“ Beschreiben tut Louis
hier die Körperdarstellungen stimmloser Bevölkerungsgruppen. Benennen tut er einen
aktiven Aufstand und eine Sichtbarwerdung von Körpern, die sich ihrer politischen
Dimension und ihrer von Arbeitsverhältnissen gezeichneten Körper bewusst werden, denn:
„Auf uns zählt niemand. Von uns spricht niemand.“ erzählt einer der Demonstranten Louis
bei seinem Besuch auf den besetzten Straßen.
Dieses Zitat hat mir Anlass gegeben zu beginnen über die Bilder von Thibaut und
Guillaume nachzudenken. Denn auch wenn wir uns diese Bilder anschauen, sehen wir,
dass ihre Arbeit von ästhetischen und politischen Kräften zugleich vorangetrieben wird.
Denn auch ihre Fotografien stehen für ein Nebeneinanderleben, und damit auch einem
(politischen) Zusammensein.
Eine Frage, die beim Betrachten der Bilder in mir aufkommt: Wo entsteht ein Gefühl der
Rohheit, das jedes Bild in sich trägt? Und welche formal-ästhetischen Mittel setzen die
beiden ein, dass dieser Eindruck erfahrbar wird?
Ich möchte heute Abend einen Einblick in die fotografischen Arbeiten von Thibaut Henz
und seinem geladenen Gast Guillaume Delleuse geben - in ihn eingeschlossen ihre
fotografischen Gesten, ihre vielfältige Motivwahl und schlussendlich die Entstehung ihrer
außergewöhnlichen Präsentationen, die sie CORPUS oder LIAISONS LATENTES (übers.
Latente Verbindungen) nennen.
Henz und Delleuse wissen darum, dass die Fotografie Realität aufnehmen kann und
dennoch haben beide nicht vergessen, dass keine Fotografie vorgeben kann, die Wahrheit
zu zeigen. Ein Bild zeigt immer nur eine bestimmte Situation unter einer ganz bestimmten
Perspektive, bewusst oder unbewusst, offen oder nicht, relevant oder nicht. Beide wissen
auch um die Besonderheit die dem zugrunde liegt, dass sie nur Fragmente illusorischer
Realitäten vermitteln und ihre eigene intime Erfahrung der Welt erzählen können. Damit
folgen sie der Praxis von ausschließlich männlichen Vorbildern wie William Klein, Antoine
d'Agata, Anders Petersen oder Bruce Gilden. Allerdings halten Thibaut und Guillaume ihre
bekannte und unbekannte Umgebung fest, nicht aber die eigens erlebten Geschichten.
Und genau hier findet eine Erweiterung der bereits existierenden und genannten Vorbilder
statt.
Zunächst erfassen beide ihre Beobachtungen der Welt, indem sie abgelegene Orte und
Menschen aufsuchen und ihre unmaskierten Ecken und Kanten, Rückseiten oder eben
Fersen, Sehnen, Haaransätze oder Ellenbogen fotografieren, die zunächst nebensächlich
erscheinen.
Guillaume Delleuse nähert sich seinen Sujets über die räumlichen und architektonischen
Strukturen von Großstädten: Er ist auf der Suche nach den Details, die Auskunft über die
Auswirkung von Stadt und Politik auf die Körper geben. Dabei fokussiert er mit der
Kamera das Detail, das die Person oder den Gegenstand für ihn in dem Moment singulär
macht, eine Narbe, ein verbeultes Sakko oder die schwarze Augenklappe. Wir sehen
Fragmente, durch die aus Personen Gestalten werden.
Des Weiteren fällt sofort ins Auge, wie das christliche Kreuz intervallartig wiederkehrt.
Nicht nur unter die Haut gestochen, sondern auch auf T-Shirts und Plakaten, an
Halsketten oder als auf Häuserdächern thronende LED-Kreuze. Delleuse interessiert das
Kreuz als Motiv und wie der christliche Glaube in der gegenwärtigen Großstadt als
Lifestyle kultiviert wird. Aber vorallem fasziniert ihn der kaputte/beschädigte/verwundete
Körper von Jesus Christus am Kreuz. Diese Faszination bestimmt seine Motivwahl und
seine gesamte fotografische Bewegung auf die Menschen zu, denn in jedem einzelnen
Bild ist eben diese Verletzlichkeit und Verletzung wiederzufinden.
Thibaut Henz stellt seinen Aufnahmen von offenen Mündern, Nasen, Augen, rauen
Händen und weißen Bäuchen streunende Katzen, bizarrem Interieur, sowie Anschnitte von
Gebäuden, spröden Fassaden und demolierten Straßenecken entgegen. Wir sehen
reglose Oberflächen, von denen der Lack abplatzt und, wie Florian Glück in einem
früheren Text zu Thibaut schreibt: „deren Restglanz vielleicht vom Ideal vergangener
Gegenwart zeugt, deren Einsicht uns endlos erschüttert“. Und wir sehen Körper-teile, die
aus laufenden Gesprächen, Bewegungen, Kompositionen getrennt und damit aus ihrer
stabilen Halterung gerissen wurden. Wir geraten in einen Zustand des Unbehagens, den
nur Gefühle der Instabilität, Brüchigkeit und Zerbrechlichkeit auslösen können.
Haut – gespannte und schlaffe, tätowierte, vernarbte, behaarte, runzlige, glänzende oder
blutende – ist Anhaltspunkt beider Fotografen, wenn sie ihre Begegnungen portraitieren.
Thibaut Henz tastet sich an ihr entlang, mal systematisch wie bei der Serie CERVELLES
(übers. Glatzen) im obersten Stockwerk, mal sinnlich wie durch zwei verknotete
Kniegelenke hindurch - nähert sich seinem Motiv über sie und kann sie doch nicht
durchdringen. Die Hautoberfläche ist hier Ausdruck für das Verständnis beider von Distanz
und Nähe. Intimität, so bringen es Guillaume und Thibaut dadurch zum Ausdruck, entsteht
in der Inszenierung des vergeblichen Versuchs der Distanzüberwindung.
Ihre fotografische Bewegung betonen sie durch mehrere formal-ästhetische
Entscheidungen: Das Hineinzoomen in die Körper findet ausschließlich über die Nähe
zwischen Sucher und Referenten statt. Ein technischer Zoom an der Kamera würde ihr
Motiv verzerren und auch ihren Willen eine Nähe zum Motiv selbst am eigenen Körper zu
spüren, unmöglich machen.
Das starke Blitzlicht reißt sowohl bei den Farbfotografien von Henz als auch bei den
Schwarz-Weiß-Fotos von Delleuse das gewählte Motiv aus seiner Umgebung, indem
jegliches natürliches Licht, das über die Atmosphäre Aufschluss geben könnte, verschluckt
wird. Nur noch die angeblitzte Stelle bleibt zurück, als Zeuge für eine Situation, die wir
allerdings als eine „so ist es gewesen“ nicht mehr nachvollziehen können.
Dies hat zur Folge, dass wir als Betrachter*innen mit unserer Unfähigkeit konfrontiert
werden, die Situation einem logischen Kontext zuzuordnen. Uns wird vorenthalten die
Begegnung retrospektiv nachzuvollziehen und damit auch vorenthalten Teil von ihr zu
werden. Vor uns befinden sich unleserliche Fragmente, das Geheimnis, dass jedes
Einzelbild mit sich trägt, verunsichert und fasziniert zugleich.
Beide Fotografen treffen sich in der Vorstellung, dass Fotografie eine künstlerische
Sprache ist, die in der gleichen Zeit ausgearbeitet werden muss, in der die Erfahrung, auf
die sie sich bezieht, stattfindet. Ihre eigene Involviertheit ist sowohl notwendiger
Bestandteil des Entstehungsprozesses, als auch als untergründige Stimmung im Bild
spürbar. Trotzdem wird sie nicht von den Fotografen als ein tragendes Narrativ verwendet:
Ihr individueller Blick auf den/die Andere/n bleibt klar ihr eigener. Und jener will uns keinen
Aufschluss über den Kontext in seiner Ganzheit geben. Die Identitäten der Portraitierten
bleiben uns verwehrt und auch jegliche Geschichte, die über die Momentaufnahme
hinausgeht.
Die Momente werden vielmehr aus ihren Geschichten herausgetrennt und auch in keine
neuen narrativen Zusammenhänge gebracht. Das ist es auch, was Henz' Einzelbilder
sowohl formal als auch inhaltlich nur schwer einortbar macht, denn sie verneinen bewusst
eine Linearität. Statt einer wahrheitsgetreuen und umfassenden Erzählung oder gar die
Konstruktion eines Weltbildes, erscheint die Gestalt des Anderen als punktueller
Widerstand gegen jede Generalisierung. Umgekehrt widersetzen sich die Fotografien auch
jeder Kategorisierung. Die Teildarstellungen sind lediglich Abbilder schlichter
Kontaktmomente - Zeit-Fragmente einer Nacht, einer Begegnung oder eines Gefühls.
Jene rezeptionsästhetische Gedanken übertragen sich auch auf die formale Ebene. Denn
die Präsentation des offenen Werkkomplexes LIAISONS LATENTES spiegelt nicht nur die
Latenz der Bilder, die inhaltlich einer räumlichen und zeitlichen Raffung gleicht.
Gemeinsam verweisen sie in ihrer Rahmung auf einen gemeinsamen Nicht-Ort. Keine Titel
oder Bildunterschriften lassen einen Schluss auf die tatsächliche Herkunft der Fotografien
zu, Fassadenelemente bleiben anonym und treffen auf Skulpturen, Plastikblumen auf
Ledersitze eines unbekannten Autos. Dass diese miteinander vereinbar sind, kommt erst
in der Zusammenstellung zum Ausdruck: Mal ist es die dezente Farb- oder
Kompositionsanalogie zweier Bilder, mal sind es offenkundig ironische Anspielungen, wie
wir es beispielsweise bei den beiden Triptychen im obersten Stock sehen können. Am
Ende entsteht ein großes Ganzes, das aber in seinem Bestand variabel ist: Bilder werden
ausgetauscht, wandern von Serien hinzu (wie beispielsweise die vereinzelten Bilder aus
der Serie GUN ET CHINOI ihren Weg in CORPUS fanden) einige verschwinden wieder,
die Liaisons sind nie final, eine Erweiterung ist unbegrenzt.
Thibaut und Guillaume begreifen beide ihre Arbeit als eine, die ständig „in progress“ ist.
Und, dass diese fotografische Arbeit für sie nie beendet ist.
Die Negation von Serien und das Prinzip der endlos wachsenden und variierbaren
Bildersammlung bestimmt auch die Präsentation von Delleuse, auch wenn die
Verbindungen anders hergestellt werden: Die Bilder in CORPUS nehmen nicht
chronologisch, dennoch linear aufeinander Bezug. Die Spannung entsteht nicht wie bei
Henz flächig, sondern zwischen den zwei aufeinanderfolgenden Bildern. Die dadurch
entstehende Rhythmik lässt die heterogene Zusammenstellung der Motive zu einem
Fließen, einer Sprache werden.
Über das Motivische hinaus, ist jene Präsentationsform als Bilderteppich, als Triptychon
oder als unendlich erscheinende Linie auch eine (Material-)Versammlung. Die Geschichte
unbestimmbarer Körperfragmente wird auch zu einer Geschichte der Versammlung, des
Kollektivs. So heterogen die Momentaufnahmen der beiden sind, so verbindet sich jedes
einzelne mit den anderen, sobald es in die Präsentation aufgenommen wird.
Thibaut und Guillaume zeigen nur ganz bestimmte Ausschnitte und wollen dies dem
Betrachter auch bewusst so vermitteln: „Das ist nur mein Blick“. Sie wollen keine Ort oder
Menschen erklären, sie artikulieren nur ihre Perspektive dazu. Themen der Nähe und
Fremde, Schmerz und Anziehung, Wirklichkeit und Melancholie kreisen um die Bilder.
Dafür lichten sie nicht nur die Wirklichkeit in ihrer Rohheit ab, sondern gehen selbst durch
sie hindurch, um zu ihren Sujets vorzudringen. Ihre Fotografie wird dadurch zu einer
solidarischen, - und unbestimmbare Körper sind am Ende hier nebeneinander anwesend.
Durch die Versammlung des Materials in einem Werkkomplex - und damit an einem Ort -
wird ihr fotografischer Gestus auch ein politischer. CORPUS und LIAISONS LATENTES
zeigen, ohne die Abgebildeten ihrer Autonomie zu berauben.
Wir befinden uns beim Betrachten der Bilder in einer Spannung, die uns auffordert einen
eigenen Denkraum / Assoziationsraum zu betreten, um eigene Geschichten und
Erklärungen zu suchen. Assoziieren zu können bedeutet nämlich auch, einen körperlosen,
formlosen und damit identitätslosen Raum zu betreten. Er ist es, der uns ermöglicht, uns
über den ersten Eindruck der Rohheit - im Sinne von Direktheit - hinwegzusetzen. Die
Kunsttheoretikerin Kerstin Stakemeier meint, dass das Fragmentarische zentraler
Bestandteil zeitgenössischer künstlerischer Praxis ist. Denn: Es bedeutet immer wieder
neue Zusammenhänge herstellen zu müssen und ermöglicht, sich von einem
vorherrschenden linearen und kohärenten Denken abzulösen. Hier gibt es keine narrative
Hierarchien im Sinne von vorgefertigten Leit- und Nebenerzählungen, kein Anfang kein
Ende, keine Kontinuität. Die ständige Negation unserer Fähigkeit begreifen zu wollen,
kennzeichnet den ästhetischen Reiz. Es wirft uns darauf zurück das Fragmentarische als
neuen Rhythmus des Lebens zu betrachten. Dies ist vielleicht die eigentliche politische
Sprengkraft, die in den Arbeiten steckt.
June Drevet
Zur Autorin:
June Drevet (*1991), freie Autorin und Kuratorin, ist seit 2016 Teil des Masterprogramms
Critical Studies an der Akademie der bildenden Künste Wien. In ihrer kuratorischen und
journalistischen Arbeit sucht sie nach produktiven Schnittstellen zwischen Bewegtbild
(Film/Fotografie) und kritischer Theorie. Ihre Ausstellungs- und Buchkritiken erscheinen in
Kunst- und Kulturmagazinen, u.a. in EIKON und Camera Austria International.
Dieser Text entstand anlässlich der Ausstellung FRAGMENTS von Thibaut Henz und
Guillaume Delleuse im Kunsthaus Erfurt (5. April – 17. Mai 2019) und wurde als
Eröffnungsrede vorgetragen.