Florian Glück
Horizontalité Renversée
Blaulicht erhellt die ausgestorbenen Straßenzüge, in denen sonst geschäftige Betriebsamkeit herrscht. Im Klang an- und abschwellender Sirenen wird die Alltagswelt zweier Städte auf den Kopf gestellt. Paris und Brüssel sind im Ausnahmezustand. Paris, weil bereits ein Terroranschlag stattgefunden hat, Brüssel, weil die Gefahr eines solchen unmittelbar gegeben ist.
Die Geschehnisse durchmisst ein Konditional, mit dem der eilig ausgerufene »état d’urgence« seine Rechtfertigung erhält: »[...] für den Fall von Ereignissen, die durch ihre Art und Schwere den Charakter einer öffentlichen Katastrophe darstellen.«[1] Zweifellos erinnert dessen Rhetorik an jene Notstandsgesetze, die im Fall von Naturkatastrophen in Kraft treten. Ebenso unvermittelt, ebenso unvorhersehbar, ebenso gewaltsam wirken die Ereignisse, die Paris und Brüssel dieser Tage sprachlos machen. Und doch bündelt sich die institutionelle Antwort beider Städte in einem Ausdruck, der bereits inhärent spannungsgeladen ist: dem Ausnahmezustand. Beinahe widersprüchlich wirkt die Semantik, stellt sie doch der flüchtigen Eventualität eines Ereignisses den behäbigen »Status quo« gegenüber. Was meint der »Zustand einer Ausnahme« demnach anderes, als die schlichte Verkehrung zweier Wortbedeutungen, die sich im Widerstreit befinden? Was, wenn die Ausnahme zum Horizont eines dauerhaften Zustandes würde?
Wo die ökonomische Zirkulation, die alltägliche Routine gestört wird, kommt es zum Bruch. Der Terror sorgt für eine veränderte Zeitwahrnehmung, insofern er selbst »unzeitgemäß« erscheint. Seine Topologie ist die einer Vertikalität, eines als augenblicklich wahrgenommenen Einbruchs, mit dem auf Seiten der Betroffenen eine Ohnmacht einhergeht, die keinen Halt kennt. Wer hätte es kommen sehen können, fragt ein Konjunktiv, dass der Terror sich erneut seinen Weg in eine europäische Hauptstadt bahnt? Hätte »man« es nicht kommen sehen müssen, schließen eifrige Analysten an. Dabei erscheint der Ausnahmezustand in Paris oder Brüssel zunächst gerade wie eine Reaktion auf ein Ereignis ohne »Horizont«. Geprägt von der reinen Möglichkeit eines Anschlages kündigte es sich im öffentlichen Leben ebenso so wenig an, wie es die Organe der staatlichen Institutionen haben voraussehen können.
Eben diese Plötzlichkeit findet im »Ausnahmezustand« ihre zeitliche Verwässerung. Im dauerhaften Aussetzen des öffentlichen Lebens nimmt sich die Ausnahme das Recht, zur Gewohnheit zu werden. Wie sie das Leben verschlingt, verschlingt sie das Leben. Unaufhörlich scheint sich jenes Wechselspiel anzutreiben, in dem die katastrophale Erscheinung ein alltägliches Antlitz erhält. Wo Innenstädte abgeriegelt werden, Polizei und Militär sterile Straßenzüge bewachen – gerade also nicht das Leben in ihnen, sondern die Straßen selbst – wird der Ausnahmezustand zur selbstreferenziellen Drohgebärde: Er antizipiert sich selbst, insofern die Ausnahme in den Alltag übergeht. Nicht länger wirkt diese wie ein unvorhersehbares Ereignis, sondern zerfließt im transitiven Geschehen zur Idee einer fortlaufenden Möglichkeit. Das Ausstehende, Vermeintliche, Zeitlose verwässert die geschäftige Welt der Städte und kehrt die Vertikalität des Einbruchs in den Horizont einer dauerhaften, virtuell anmutenden Bedrohung um. Vor diesem Hintergrund ist die Angst nicht lediglich die Angst vor einer aufwartenden, realen Gefahr, sondern ebenso die Angst vor einer Aufgabe der Ausnahme. Im Zuge einer Modalität der reinen Möglichkeit wird die Angst dabei geradezu selbstbegründend: Was passiert ist, kann erneut passieren, ohne jede Garantie dafür, dass es nicht passieren wird. Anders gesagt: Die Erinnerung an einen Anschlag in der Vergangenheit spiegelt sich in der Bedrohung eines zukünftigen in der Gegenwart. Darin liegt die affektive Logik der Angst, ihr anhaltender Konjunktiv, ihre nagende Uneinsichtigkeit.
Wie ein Unwetter verhängt der Ausnahmezustand jene betroffenen Städte und hüllt sie in eine Stimmung des Vagen. Einem Milieu »versicherter Unsicherheit« gleich stößt er zahlreiche Präventivhandlungen an, die auf eine Zukunft zielen, in der sich unsere Gegenwart wie eine Grimasse spiegelt. In der Logik eines »nach dem Anschlag ist vor dem Anschlag« zielen die Präventivhandlungen auf eine Gefahr, die zwischen realer und virtueller Bedrohung changiert. Letztlich bleibt dabei unentscheidbar, in welcher Zeit die Gefahr manifest wird. Durch die Einebnung oder Verwindung der Vertikalen mit der Horizontalen – das heißt der zeiträumlichen Ausnahme mit der Regel – begibt sich der »Status quo« in den Übergang, das Ereignis in den Alltag, das Leben innerhalb der Städte in eine Stimmung anhaltender Gehemmtheit.
Dann dämmert es. Und der ausgerufene Ausnahmezustand bedingt zunehmend selbst jenen Konditional, der die Ausnahme noch als singuläres Ereignis charakterisierte. Was der Fall war, wird zur Gefälligkeit einer Angst, die sich einer anderen Terminologie bedient: »Was gewesen sein wird«, ein Futur II, scheint nunmehr maßgeblich. Und eine Aussicht, die mehr verspricht, wird verstellt von den Mitteln seiner Einhaltung.
Paris, 4. Dezember 2015
[1] Im Original heißt es: „[...] en cas de péril imminent résultant d'atteintes graves à l'ordre public, soit en cas d'événements présentant, par leur nature et leur gravité, le caractère de calamité publique.“, in: http://www.legifrance.gouv.fr/affichTexte.do?cidTexte=JORFTEXT000000695350, aufgerufen: 6.12.2015.