Florian Glück
Sehen, Nirgendwo
Mit dem Sehen beginnen.
Beginnen sich ein Bild zu machen: Wo stehen wir? Der Titel der Serie spricht von einem Un-Ort: nulle part – nirgendwo. Kein Ort, der also bestimmbar oder Teil einer Bestimmung ist. Denn nulle part, das heißt auch: »kein Teil«. Und so stellt sich die Frage, wer oder was hier kein Teil ist? Und ob »kein Teil« nicht bereits unter der Bedingung zumindest einer Teilnahme steht, einer Vermittlung durch Sehgewohnheiten, Zurichtungen des Blicks und sozial formatierte Blickrichtungen? Wie »kein Teil« sein, ohne etwas also – wenigstens teilweise – anzunehmen: die Sprache, die Bilder, das Sehen? Wie »kein Teil« sein, ohne am großen Ganzen teilzunehmen? Als ginge es stets ums Ganze oder darum aufs Ganze zu gehen. C’est nul ! Taugt das etwas?
Wo stehen wir? Nirgendwo. Sich ein neues Bild machen: die fotografische Geste beschreiben. Nahaufnahmen, Porträts, Stillleben. Als wollte der Fotograf ein Stück heraustrennen, es aus seiner Halterung reißen, ausschneiden und sich aneignen. Es ist der Schuss, der diese Fotografien anleitet, das Paradox der Ent-Fernung: je größer die Nähe, desto geringer und entfremdeter der Bildausschnitt (dem Ruf entsprechend: Wie nah kann ich kommen?). Ein vorschneller Schluss: Intimität lässt sich nicht auf Nähe reduzieren. Aber intim wirken sie doch, diese Bilder, wie Sammelsurien verlegter und andernorts aufgelesener Teile. Wahre Körperteile, zur Schau gestellt, als läge ihre Wahrheit weniger im großen Ganzen als im ganz Kleinen. Teile, die aber keinen geschlossenen Zusammenhang bilden und an die sich keine kongruente Erfahrung des Betrachtens schließt. Denn weder inhaltlich noch formell – etwa durch Bildunterschriften – bildet sie ein lineares Narrativ. Vielmehr proklamieren die Fotografien den kalten Entzug. Die Welt bleibt draußen: Statt auf eine umfassende Erzählung richten sich die Bilder auf den schlichten Kontakt zwischen Sucher und Referent. Statt eines Weltbildes erscheint die Gestalt des Anderen als punktueller Widerstand gegen jede Generalisierung. Das/die/der Andere: Die Umrisse, Erregungen und tiefen Blicke verraten nicht, was sie wollen, nur dass sie ein Geheimnis birgen.
Vor diesen Geheimnissen muss jede Beschreibung scheitern. Denn die Bilder rufen nicht nach Beschreibung, sondern nach Beschreibbarkeit. Gerade darin scheint ihre Dringlichkeit zu liegen, ihr unausgesprochener Imperativ, ihre unabgeschlossene Infragestellung (nulle part heißt auch nirgendwohin, an keinen Ort einer Antwort also). Übersetzt: Wie ein Luftschuss ins Ungewisse geben sich jene Momentaufnahmen, als seien sie ihrer Umgebung entrissen und Teil eines anderen Zeitraums (wer könnte etwa sagen wie viel Uhr es ist?); und rücken gleichsam die Rolle der Fotografie in ein neues Licht: ihren Ausdruck findet sie nicht in der gelungenen Ablichtung, sondern im tastenden Versuch, im Experiment, in der Probe. Wer könnte wahrlich fotografieren, etwas festhalten, scheinen die Bilder hinsichtlich dieser Unabgeschlossenheit zu fragen. Wer könnte sich in Wahrheit Fotograf nennen – wer wäre mehr als der Versuch eines Fotografen? Gerade die Flüchtigkeit des Experiments scheint hier im Vordergrund zu stehen, das Changieren zwischen Gelingen und Nicht-Gelingen – was kein Scheitern bedeutet, sondern eine selbstreflexive Aufnahme und eine unaufhörliche Suche. Ganz wie das Aufleuchten des Blitzes, zu dem sich die Blende im selben, ereignishaften Augenblick schließt und ins Dunkel zurückzieht. Dann sind es die gefallenen Gestalten vor unseren Augen, die anmutig stehen bleiben: in der Falle, aber auch (sich) gefallend für einen Moment, und: gefallen wie gestorben.
Wir aber sind noch da. Was sagen uns die Bilder dann? Und wenn sie weniger beschrieben als beschreibbar werden sollen, wenn uns ihr Anders-Sein im Ganzen verstört, wie sehen wir dann? Die Blicke der Abgebildeten verweisen nicht nur auf ein Unsichtbares (auf etwas Konkretes außerhalb des Bildraums), sondern auf die Unsichtbarkeit dieses Bildraums selbst. Auf unsere Unfähigkeit zu sehen also: Wir können nicht an ihnen partizipieren, wir sehen nicht wie sie. Entsprechend liest sich ihre tragikomische Pointe: »Schau mir zu, ich bin woanders, nirgendwo«. Weil wir nicht in der Lage sind für sie zu sehen, sie mehr wissen, mehr verstehen, kommen wir nicht umhin, fehlbar zu sein; das ist unser Mangel, das (Ver-)Fehlen unserer Projektionen und der Grund hinzusehen oder es eben sein zu lassen; der Reiz jener Fotografie oder ihrem: »Ich sehe, dass es nie so gewesen sein kann«. Nicht etwa, weil ich sehen würde, sondern weil ich (das Situative) nicht sehe, affizieren mich jene Blicke im Nirgendwo.
Und gleichsam verlieren sich die Blicke der Gefallenen dort, sind brüchig, ungehalten und verunstaltend. Es sind Blicke ins Außerhalb, voller Erregung, Zerbrechlichkeit und Melancholie, die ins Offene abrutschen. Das heißt: Weniger weisen sie auf etwas hin, an dem ich nicht teilhabe, als auf meine eigene, erzwungene Teilnahmslosigkeit. Sie richten sich aufs Nichts jener aufblitzenden Erscheinungen, jener Lichtgestalten, deren Umriss ich für einen Moment zu erkennen glaube und deren Gestalt ich gerne annähme, um für einen Augenblick sie zu sein. Um wie sie abgelichtet zu werden, zum Bild zu gerinnen (zu ihrem Bild, ihrem Abbild, zu einem Teil von ihnen). »Sie sind nirgendwo – ich will dort sein«, scheinen wir ihnen stumm zu entgegnen. Vielleicht ist es aber darum weniger ihr sehender als ihr schauender Blick, weniger das Formelle als das Formlose, das ihre Verschlossenheit in einer erschütternden Offenheit verrät: junge Männer und Frauen, der Blick ins Außen, kein Ende in Sicht. Sie beobachten nichts, sondern schauen nur. Wer könnte sagen, was sie sehen, was sie fühlen oder wissen in jenem Moment, der stumm vorüberzieht und einen leisen Zweifel keimen lässt, ob nicht wir es sind, die in Wahrheit an ihrer Stelle stehen.
Ihr Schauen, ihr verschwiegener Blick, in dem wir uns also gerne einrichten, bereitet den Raum eines Irgendwo (wo auch immer: nirgendwo – nulle part, quelque part) und macht unser Sehen zur gestalterischen Funktion, zur Entdeckung eines anderen Raumes, einer Utopie: Die Gesichter, die leeren Hände werden gebrochen von Fassaden, Steinwüsten und robustem Material. Oberflächen, von denen der Lack abplatzt, deren Restglanz vielleicht von einer vergangenen Gegenwart zeugt, deren Einsicht uns endlos erschüttert. Ganz eindeutig lassen sie sich Zeit, laden ein, Zeit verstreichen zu lassen, sprechen vom gelassenen Widerstand, von Beständigkeit und Tragfähigkeit, und: von geringen Erträgen. Und scheinen dabei genügsam zu räsonieren: »Wir wollten nichts als gelassen werden« (in allen morphologischen Verwandtschaften: Entlassen-, Verlassen-, in-Ruhe-gelassen-werden).
Eben jene Elemente durchkreuzen den klaren Blick, wie das Gestänge, dessen Enden außerhalb des Bildes zusammenlaufen. Als könnten nur die Figuren im Bild ihr Ende erkennen, das für uns für immer verborgen bleibt. Als wären nur die Gefallenen in der Lage, wahre Geschichten zu erzählen, die Bilder zu deuten und anzunehmen, als riefen sie uns zu: »Schaut, wie ich schaue« – gerade in dem Moment, wo sie uns gespenstisch erscheinen: ihr Blick in die Kamera, zu uns, zu mir: Neurose, die immer mir gilt.
Es wird darin aber noch etwas Weiteres deutlich: Ihr Schauen erzählt auch die Geschichte eines Kollektivs. Es sind nicht bestimmte, sondern unbestimmte Körperteile, die hier nebeneinander anwesend sind. Ein ruhiges und gleichzeitiges Geschehenlassen von Dingen, als seien sie im besten Sinne neben-sächlich, gleich-gültig und nur durch ihre Verknüpfung und in Bezug aufeinander zu betrachten (das heißt für uns immer teilweise sichtbar). Als ließen sie uns in ihrer Brüchigkeit sprachlos zurück und wieder als vorsprachliche, bild-gebärende Wesen bestehen, die sich den Fließbewegungen und Flussdingen, ihren entschleunigten Rinnsalen (den Pissoirs der Welt) an- bzw. eintragen. Selbst in den Momenten, in denen offensichtlich gesprochen wird, scheint noch die Sprache im Bild zu zerfließen. Gerade in diesen Augenblicken quillen die offenen Münder und Augen über vor stummer Bedeutung. Sieh, was sie sagen.