Mit dem Sehen beginnen.
Sich also ein Bild machen: Wo stehen wir? Der Titel der Fotoserie benennt keinen eindeutigen Ort: Nulle part, Nirgendwo. Kein Ort, der bestimmbar oder Teil einer Bestimmung wäre. Denn nulle part, das heißt zugleich auch: kein Teil. Womit die Frage aufscheint, wer oder was „kein Teil“ wäre? Wie es „keinen Teil“ gäbe, wenn etwas zweifellos gegeben ist (wir, diese Fotografien, dieses Buch). Ob "etwas" daher vorausgesetzt werden müsste: etwa ein Verständnis, ein kleinster gemeinsamer Nenner, generelle Sehgewohnheiten, und demnach bereits eine Teilnahme? Eine Teilnahme an etwas Umfassenderem, von dem sich jeder (und damit kein) Teil nur ableitete? Oder wäre gar das Ganze selbst gemeint: „kein Teil“ als Verbund aller Teile? Als ginge es immer ums Ganze oder darum aufs Ganze zu gehen: c’est nul ! Taugt das etwas?
Sich ein weiteres Bild machen: die fotografische Geste beschreiben. Nahaufnahmen, Porträts, Lichtblitze. Als wollte der Fotograf ein Stück heraustrennen, es aus seiner Halterung reißen, ausschneiden und einnehmen. Es ist der Schuss, der diese Fotografien anleitet, das Paradox der Ent-Fernung: je größer die Nähe, desto geringer der Bildausschnitt und desto größer die Entfremdung (entsprechend der Ruf: „wie nah kann ich kommen?“). Ein vorschneller Schluss: Intimität lässt sich nicht auf „Nähe“ reduzieren. Aber intim wirken sie doch, diese Bilder, wie Sammelsurien zerrütteter, vergessener Fundstücke. Wahre Körper-teile, zur Schau gestellt, als läge ihre Wahrheit nicht im Großen, sondern im ganz Kleinen. Teile, deren Teilhaftigkeit kein Ganzes bildet und an die sich keine kongruente Erfahrung des Betrachtens schließt, weil sie kein zusammenhänge ndes Narrativ ergibt (weder inhaltlich noch formell durc h Bildunterschriften). Vielmehr proklamieren die Bilder den (kalten) Entzug. Die Welt bleibt draußen: statt auf eine umfassende Erzählung richten sie sich auf den schlichten Kontakt des Suchers mit seinem Referenten – unverbrüchliche Einfachheit, die auf andere Weise ehrlich wirkt. Statt eines Weltbildes erscheint die Gestalt des Anderen als punktueller Widerstand gegen jede Generalisierung. Der/die/das Andere: Die Umrisse, Erregungen und tiefen Blicke verraten nicht, was sie wollen, nur dass sie ein Geheimnis haben.
Für jene Geheimnisse wirken unsere Beschreibungen nicht hinreichend. Denn jene Fotos rufen weniger nach Beschreibungen, als nach Beschreibbarkeit. Vielleicht liegt gerade hierin ihre Dringlichkeit, ihr unverhohle ner Imperativ und ihre unabgeschlossene Infragestellung (nulle part heißt auch nirgendwo-hin). Übersetzt: wie ein Luftschuss ins Ungewisse geben sich die situativen Momentaufnahmen, die ihrer Umgebung entrückt scheinen, als seien sie Teil eines anderen Raum-Zeit-Kontinuums (wer könnte etwa sagen wie viel Uhr es ist?). Und rücken gleichsam die Rolle der Fotografie selbst in ein neues Licht: kenntlich wird jene nicht als gelungener Fang, sondern als reiner Versuch des Fotografierens, als Experiment oder Probe. Wer könnte schon wahrlich fotografieren, scheinen die Bilder hinsichtlich ihrer Unabgeschlossenheit zu fragen. Und wer könnte sich unumwunden ein Fotograf nennen. Wer wäre mehr als der Versuch eines Fotografs? Gerade die Flüchtigkeit des Versuchs steht hier im Vordergrund, das Changieren zwischen Gelingen und Nicht-Gelingen – was kein Scheitern bedeutet. Ganz wie das Aufleuchten des Lichts, dessen ereignishafte Blende sich im selben Augenblick wieder schließt und nur Dunkel zurücklässt. Dann sind es die gefallenen Gestalten vor unseren Augen, die dennoch anmutig bleiben: in der Falle, aber auch (sich) gefallend für den Augenblick, und: gefallen wie gestorben.
Wir aber, wir sind noch da. Was lassen uns die Bilder erkennen? Wenn sie weniger beschrieben als beschreibbar sein sollen, wenn uns ihr Anders-Sein im Ganzen verklärt, wie sehen wir dann? Die Blicke der Abgebildeten verweisen nicht nur auf ein Unsichtbares (auf etwas konkretes außerhalb des Bildraums), sondern auf die Unsichtbarkeit selbst (ihre Bildhaftigkeit). Auf unser Nicht-Sehen-Können. Und daher auf eine erzwungene Teilnahmslosigkeit: wir können an ihnen nicht teilnehmen, wir sehen nicht wie sie. Das ist ihre tragikomische Pointe: „Schau mir zu, ich bin woanders, nirgendwo“. Wir sind nicht in der Lage für sie zu sehen, sie wissen mehr, sie sehen mehr und wir kommen nicht umhin, fehlbar zu sein; das ist mein Mangel, das (ver)fehlen meiner Projektionen in einer Verlustgeste; der Grund weshalb ich hinsehe oder vorübergehe; der Reiz jeder Fotografie oder vielmehr ihrem: „ich sehe, dass es nie so gewesen sein kann“. Nicht etwa, weil ich sehen würde, sondern weil ich das Situative stets verfehle und niemals sehen werde, interessieren mich jene Blicke im Nirgendwo.
Und gleichsam verlieren sich diese Blicke dort, sind ungestaltet und zugleic h verunstaltend. Es sind Blicke, die eben nicht nur etwas anzeigen – nämlich das, was mir innerhalb einer konkreten Struktur entgeht –, sondern selbst ungerichtet, ungehalten, ungebrochen sind, voller Furcht, Wut und Erregung. Alles in allem ins Offene abrutschen. Das heißt: nicht nur richten sie sich auf etwas, an dem ich nicht teilhabe, sondern auf die Teilnahmslosigkeit selbst. Sie richten sich aufs Nichts jener aufblitzenden Erscheinungen, jener Lichtgestalten, deren Umriss ich für einen Augenblick zu erkennen glaube, deren Körper ich gerne wäre, um zu wissen, (wie) sie sehen. Um konkreter zu sein und ihren Blick zu verstehen, selbst zum Bild zu werden (zu ihrem Bild, ihrem Abbild, zu einem Teil von ihnen). Sie sind nirgendwo – ich will dort sein, scheine ich ihnen stumm zu entgegnen. Vielleicht ist es aber darum gerade weniger ihr sehender, als ihr schauender Blick, weniger das Formelle als das Formlose, das ihre Verschlossenheit in unendlicher Offenheit verrät: Zwei junge Männer, der Blick ins Außen, kein Ende im Bild. Sie beobachten nichts, sondern schauen nur: wer könnte sagen, was sie sehen, was sie denken in jenem Moment, der stumm verhallt und einen leisen Zweifel keimen lässt, ob nicht wir es sind, die in Wahrheit an ihrer Stelle sind.
Ihr Schauen, ihr verschwiegener Blick, in dem ich mich also gerne einrichte (parasitär, obszön), bereitet mir den Raum eines Irgendwo (wo auch immer: Nirgendwo – nulle part, quelque part – egal) und gliedert mein Sehen zur gestalterischen Form, zur Entdeckung eines anderen Raumes, einer A-topie: die Gesichter, die leeren Hände werden gebrochen von gläsernen Fassaden, Steinwüsten und robustem Material. Oberflächen, von denen der Lack abplatzt, deren Restglanz vielleicht eine Zeit in Erinnerung ruft, die nur noch allzu verklärt daliegt. Ganz eindeutig aber: sie lassen sich Zeit, laden ein, Zeit verstreichen zu lassen, sprechen vom gelassenen Widerstand, von Beständigkeit und Tragfähigkeit, und gleichsam: von geringen Erträgen. Und scheinen dabei ganz genügsam zu räsonieren: Wir wollten nichts, außer Gelassenheit (in all ihren Präfix- und Konditionalmodi: Entlassen-sein, In-Ruhe-gelassen-sein, Belassen- oder Verlassen- Sein). Eben jene Bildelemente durchkreuzen den klaren Blick, wie das Gestänge, dessen Enden außerhalb des Bildes zusammenlaufen. Als würden nur die Figuren im Bild ihr Ende sehen, das für mich im Verborgenen liegt. Als könnten nur die Protagonisten der Fotografien wahre Geschichten erzählen, die Bilder deuten und verstehen, mir gleichsam zurufen: „schau, wie ich schaue“, gerade in dem Moment, wo sie mir gespenstisch erscheinen: ihr Blick in die Kamera, zu uns, zu mir: Neurose, die immer nur mir gilt.
Und doch ist etwas Weiteres auffallend: Ihr Schauen erzählt auch die Geschichte eines Kollektivs: Hier sind es alle Körper-teile, die nebeneinander bestehen dürfen. Ein ruhiges und gleichzeitiges Geschehen-lassen von Menschen, Dingen und Tieren, als seien sie im besten Sinne neben-sächlich, gleich-gültig und nur im Bezug zueinander deutbar (das heißt teilweise ersichtlich). Als ließen sie uns wieder sprachlos werden und am Ende aller Sprachspiele weniger sprach- als bild-gebährenden Wesen sein, die sich den Fließbewegungen und Flussdingen, ihren entschleunigten Rinnsalen (den Pissoirs der Welt) an- bzw. eintragen. Selbst in den Momenten, in denen offensichtlich gesprochen wird, scheint noch die Sprache im Bild zu zerfließen. Gerade in diesen Augenblicken quillen die offenen Münder und Augen über vor stummer Bedeutung: sieh, was sie sagen: „Nulle par, Nirgendwo“.
Florian Glück