2017
Sehen, Nirgendwo
Mit dem Sehen beginnen. Beginnen sich ein Bild zu machen: Wo stehen wir? Der Titel spricht von einem Un-Ort: nulle part – Nirgendwo. Kein Ort, der also bestimmbar oder Teil einer Bestimmung wäre. Denn nulle part, das heißt auch: kein Teil. Und so stellt sich die Frage, wer oder was „kein Teil“ wäre? Ob „kein Teil“ nicht bereits unter der Bedingung eines Teils stünde, von etwas, das als allgemeines Verständnis, inkorporierte Sehgewohnheit oder kleinster gemeinsamer Nenner zu fassen wäre? Wie also „kein Teil“ sein, ohne „etwas“ – wenigstens teilweise – anzunehmen (die Sprache, die Bilder, das „Sehen“)? Handelt es sich nicht bereits um eine Teilnahme daran, sobald wir von „keinem Teil" sprechen, als sei er zunächst schlicht „Bild“ oder „Abzug“ eines größeren Ganzen (vielleicht sogar Ur-Bild aller Teile)? Als ginge es stets ums Ganze oder darum aufs Ganze zu gehen. C'est nul ! Taugt das „etwas“?
Wo stehen wir? Nirgendwo. Sich ein neues Bild machen: die fotografische Geste beschreiben. Nahaufnahmen, Porträts, Stillleben. Als wollte der Fotograf ein Stück heraustrennen, es aus seiner Halterung reißen, ausschneiden und einnehmen. Es ist der Schuss, der diese Fotografien anleitet, das Paradox der Ent-Fernung: je größer die Nähe, desto geringer und entfremdeter der Bildausschnitt (dem Ruf entsprechend: „Wie nah kann ich kommen?“). Ein vorschneller Schluss: Intimität lässt sich nicht auf „Nähe“ reduzieren. Aber intim wirken sie doch, diese Bilder, wie Kaleidoskope verlegter und wieder aufgelesener Teile. Wahre Körper-teile, zur Schau gestellt, als läge ihre Wahrheit weniger im großen Ganzen als im ganz Kleinen. Teile, deren Teilhaftigkeit dennoch keinen Zusammenhang bildet und an die sich keine kongruente Erfahrung des Betrachtens schließt. Denn weder inhaltlich noch formell (durch Bildunterschriften) bildet sie ein lineares Narrativ. Vielmehr proklamieren die Fotografien den (kalten) Entzug. Die Welt bleibt draußen: statt auf eine umfassende Erzählung richten sich die Motive auf den schlichten Kontakt zwischen Sucher und Referent. Statt eines Weltbildes erscheint die Gestalt des Anderen als punktueller Widerstand gegen jede Generalisierung. Der/die/das Andere: Die Umrisse, Erregungen und tiefen Blicke verraten nicht, was sie wollen, nur dass sie ein Geheimnis birgen.
Vor diesen Geheimnissen wirken unsere Beschreibungen unzureichend. Denn die Bilder rufen nicht nach Beschreibung, sondern nach Beschreibbarkeit. Gerade darin scheint ihre Dringlichkeit zu liegen, ihr unverhohlener Imperativ, ihre unabgeschlossene Infragestellung (nulle part heißt auch nirgendwohin, an keinen Ort einer Antwort also). Übersetzt: wie ein Luftschuss ins Ungewisse geben sich jene situativen Momente, als seien sie ihrer Umgebung entrissen und Teil eines anderen Zeitraums (wer könnte etwa sagen wie viel Uhr es ist?); und rücken gleichsam die Fotografie selbst in ein neues Licht: kenntlich wird diese nicht als gelungene Ablichtung, sondern als reiner Versuch, als Experiment oder Probe. Wer könnte wahrlich fotografieren, etwas festhalten, scheinen die Bilder hinsichtlich dieser Unabgeschlossenheit zu fragen. Wer könnte sich unumwunden Fotograf nennen – wer wäre mehr als der Versuch eines Fotografs? Gerade die Flüchtigkeit des Experiments steht hier im Vordergrund, das Changieren zwischen Gelingen und Nicht-Gelingen – was kein Scheitern bedeutet, sondern eine selbstreflexive Aufnahme und unaufhörliche Suche. Ganz wie das Aufleuchten des Blitzes, zu dem sich die Blende im selben, ereignishaften Augenblick schließt und ins Dunkel zurückzieht. Dann sind es die gefallenen Gestalten vor unseren Augen, die anmutig stehen bleiben: in der Falle, aber auch (sich) gefallend für einen Moment, und: gefallen wie gestorben.
Wir aber sind noch da. Was sagen uns die Bilder dann? Und wenn sie weniger beschrieben als beschreibbar werden sollen, wenn uns ihr Anders-Sein im Ganzen verstört, wie sehen wir dann? Die Blicke der Abgebildeten verweisen nicht nur auf ein Unsichtbares (auf etwas Konkretes außerhalb des Bildraums), sondern auf die Unsichtbarkeit selbst (auf die Bildhaftigkeit dieses Raums). Auf unsere Unfähigkeit zu sehen also: wir können nicht an ihnen partizipieren, wir sehen nicht wie sie. Entsprechend liest sich ihre tragikomische Pointe: „Schau mir zu, ich bin woanders, nirgendwo“. Da wir nicht in der Lage sind für sie zu sehen, sie mehr wissen, mehr verstehen, kommen wir nicht umhin, fehlbar zu sein; das ist unser Mangel, das (Ver-)Fehlen unserer Projektionen und der Grund hinzusehen oder es sein zu lassen; der Reiz jener Fotografie oder ihrem: „Ich sehe, dass es nie so gewesen sein kann“. Nicht etwa, weil ich sehen würde, sondern weil ich (das Situative) nicht sehe, affizieren mich jene Blicke im Nirgendwo.
Und gleichsam verlieren sich die Blicke der Gefallenen dort, sind ungestaltet und zugleich verunstaltend. Es sind Blicke ins Außerhalb, voller Erregung, Zerbrechlichkeit und Melancholie, die alles in allem ins Offene abrutschen. Das heißt: weniger weisen sie auf etwas hin, an dem ich nicht teilhabe, sondern auf meine eigene Teilnahmslosigkeit: Sie richten sich aufs Nichts jener aufblitzenden Erscheinungen, jener Lichtgestalten, deren Umriss ich für einen Moment zu erkennen glaube und deren Gestalt ich gerne annähme, um (wie) sie zu sein. Um wie sie abgelichtet zu werden, zum Bild zu gerinnen (zu ihrem Bild, ihrem Abbild, zu einem Teil von ihnen). Sie sind nirgendwo – ich will dort sein, scheinen wir ihnen stumm zu entgegnen. Vielleicht ist es aber darum weniger ihr sehender, als ihr schauender Blick, weniger das Formelle als das Formlose, das ihre Verschlossenheit in unendlicher Offenheit verrät: Junge Männer und Frauen, der Blick ins Außen, kein Ende in Sicht. Sie beobachten nichts, sondern schauen nur. Wer könnte sagen, was sie sehen, was sie fühlen oder wissen in jenem Moment, der stumm vorüberzieht und einen leisen Zweifel aufkeimen lässt, ob nicht wir es sind, die in Wahrheit an ihrer Stelle stehen.
Ihr Schauen, ihr verschwiegener Blick, in dem wir uns also gerne einrichten (parasitär, obszön), bereitet den Raum eines Irgendwo (wo auch immer: Nirgendwo – nulle part, quelque part) und gliedert unser Sehen zur gestalterischen Funktion, zur Entdeckung eines anderen Raumes, einer A-topie: Die Gesichter, die leeren Hände werden gebrochen von Fassaden, Steinwüsten und robustem Material. Oberflächen, von denen der Lack abplatzt, deren Restglanz vielleicht vom Ideal einer vergangenen Gegenwart zeugt, deren Einsicht uns endlos erschüttert. Ganz eindeutig lassen sie sich Zeit, laden ein, Zeit verstreichen zu lassen, sprechen vom gelassenen Widerstand, von Beständigkeit und Tragfähigkeit, und: von geringen Erträgen. Und scheinen dabei genügsam zu räsonieren: „Wir wollten nichts, außer Gelassenheit“ (in all ihren morphologischen Verwandtschaften: Entlassen-, Belassen-, Verlassen- oder in-Ruhe-gelassen-zu-sein).
Eben jene Elemente durchkreuzen den klaren Blick, wie das Gestänge, dessen Enden außerhalb des Bildes zusammenlaufen. Als würden nur die Figuren im Bild ihr Ende vernehmen, das für uns für immer verborgen bleibt. Als könnten nur die Gefallenen wahre Geschichten erzählen, die Bilder deuten und annehmen, uns gleichsam zurufen: „schaut, wie ich schaue“ – gerade in dem Moment, wo sie uns gespenstisch erscheinen: ihr Blick in die Kamera, zu uns, zu mir: Neurose, die immer mir gilt.
Und doch wird darin etwas Weiteres deutlich: Ihr Schauen erzählt die Geschichte eines Kollektivs: Es sind nicht bestimmte, sondern unbestimmte Körper-teile, die hier nebeneinander anwesend sind. Ein ruhiges und gleichzeitiges Geschehen-lassen von Dingen, als seien sie im besten Sinne neben-sächlich, gleich-gültig und nur in Bezug aufeinander ersichtlich (das heißt für uns teilweise sichtbar). Als ließen sie uns in ihrer Brüchigkeit sprachlos zurück und wieder als vorsprachliche, bild-gebährende Wesen bestehen, die sich den Fließbewegungen und Flussdingen, ihren entschleunigten Rinnsalen (den Pissoirs der Welt) an- bzw. eintragen. Selbst in den Momenten, in denen offensichtlich gesprochen wird, scheint noch die Sprache im Bild zu zerfließen. Gerade in diesen Augenblicken quillen die offenen Münder und Augen über vor stummer Bedeutung. Sieh, was sie sagen.
—Florian Glück—